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  • AutorenbildNatalie Lehnert

Wieso hast du ein Kind bekommen, wenn du autistisch bist?

Leider wird diese Frage immer wieder von Leuten gestellt (ich habe sie auch schon gestellt bekommen). Viele Menschen werden diese Frage stellen, ohne darüber nachzudenken, wie verletzend und ableistisch sie ist. Und so sehr ich mich auch erst darüber geärgert habe, ist sie doch auch der Art geschuldet, wie wir als Gesellschaft Autismus oder auch generell Behinderungen betrachten. Ein Autist wird vor allen Dingen aus beeinträchtigter Sicht erlebt und eingeordnet. Das Spielverhalten junger Autisten wird mit dem neurotypischer Kinder verglichen. Man bringt ihm schlicht und ergreifend weniger Achtung bei und bezeichnet es als untypisch oder auch „nicht angemessen“. Autistische Kinder können eine wundervolle Phantasie besitzen, die ihnen schlicht und ergreifend abgesprochen wird, wenn sie nicht der „Norm“ entspricht. Was für eine Schande.


In Kindergärten und Schulen wird in der Ausbildung nach wie vor schändlich ignoriert, dass neurodivergente Kinder andere Bedürfnisse haben und durchaus ebenfalls kooperieren wollen. Zu schwierig, zu wenig anpassungsfähig… Dabei wäre es doch ein Leichtes, während der Ausbildung bereits für deren Bedürfnisse zu sensibilisieren. Wissen an sich kann trotzdem nur begrenzte Möglichkeiten bieten, aber selbst diese fehlen. Und leider wird auch viel zu oft noch verlangt, dass autistische Kinder oder zum Beispiel Kinder mit ADHS sich in diese Gemeinschaft einfügen, ohne, dass man es als ein Aufeinanderzugehen betrachtet.


Oftmals fehlen den Kindern die Möglichkeiten, sich so einzubringen, wie man es von ihnen erwartet (was erwartet man eigentlich?). Andersrum würde es neurotypischen Menschen ähnlich ergehen, wenn man von ihnen erwarten würde, möglichst autistisch zu sein. Wenn es die „Norm“ betrifft, ist dies selbstverständlich KEINE Unzulänglichkeit. Die ist es erst dann, wenn das autistische Kind es nicht schafft, gegen seine autistische Natur zu handeln.


Mit 18 Jahren endet der Autismus nicht (auch nicht davor oder danach) und er wächst sich auch nicht raus. Wir lernen lediglich im Laufe unserer Kindheit und Jugend, was von uns erwartet wird und wie wir möglichst nicht unangenehm auffallen. Bitter? Ja, das ist bitter. Faktisch führt es dazu, dass viele von uns das Masking perfektionieren und zum perfekten Schatten eines Selbst werden, das die Gesellschaft uns auferlegt. Nicht echt. Viele von uns entwickeln dadurch „Folge“Krankheiten, erleben Burn-Outs, leiden unter einem niedrigen Selbstwertgefühl und führen eventuell niemals eine Partnerschaft.


Einige von uns schaffen es, sich ein Leben so aufzubauen, dass sie als autistisch nicht auffallen. Ich zum Beispiel bin immer früher oder später als komisch aufgefallen. An autistisch hätten die wenigsten Leute dabei gedacht. Trotzdem würde ich mich nach wie vor jeden Tag wieder für meine Tochter entscheiden. Denn, so schwer es vielen Menschen zu fallen scheint, sich das vorzustellen: Wir können gute oder schlechte Eltern sein – wie neurotypische Menschen auch. Es gibt mehrere Biographien autistischer Frauen, die ebenfalls mit viel Liebe ihre Kinder ins Leben begleiten konnten. Die meisten Probleme entstehen nicht immer dadurch, dass Autisten ihre Kinder nicht verstehen. Oft ist das größte Problem das Umfeld, das eine Anpassung fordert, die autistische Kinder nicht erbringen können. Autistische Eltern haben diese Erfahrung oft selber bereits hinter sich und verstehen dadurch viele Dinge, die andere Eltern so nicht verstehen können. Wie sollen sie auch. Das macht sie weder zu besseren noch zu schlechteren Eltern. Sie sind nur – autistisch.


Die Vorstellung, sein Kind durch die Weitergabe der Gene und einem möglichen Autismus zu strafen, ist verknüpft mit einer großen Angst. Autismus – Behinderungen – beides sind Worte, die sich viele Menschen nicht vorstellen können, die vielleicht auch misstrauisch beäugt werden. Übersehen werden dabei viele wichtige Dinge. In erster Linie sind wir alle Menschen, die ihre eigenen Potentiale mitbringen und sich in 1000 Richtungen entwickeln können. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir autistisch oder neurotypisch sind. Viele Autisten haben einen unglaublich genauen Blick fürs Detail, der oftmals defizitär dem Begriff der schwachen zentralen Kohärenz weichen muss. Ja, es ist zweifelsohne blöd, wenn man den Gesamtzusammenhang nicht automatisch herstellen kann. Viele von uns finden Wege, diese Schwächen auszugleichen. Das ist übrigens bei den Schwächen neurotypischer Menschen nicht anders. Andererseits verlieren wir den Blick für unsere Stärken, wenn wir uns immer wieder einreden (lassen), dass wir als Autisten defizitär sind (und am besten keine Kinder in die Welt setzen sollten).


Ich könnte noch 1000 Dinge dazu schreiben, aber ich möchte nicht zu sehr abschweifen.

Meine Tochter möchte irgendwann auch einmal Mutter werden und ich wünsche ihr, dass sie sich nicht entmutigen lässt.

Natürlich sollten wir uns realistisch damit auseinandersetzen, bevor wir Kinder planen. Kinder passen nicht in den Lebensentwurf aller Menschen und manchmal kommt diese Erkenntnis zu spät. Meine größte Sorge gilt der Welt, die nach wie vor versucht, Kinder zu integrieren, anstatt sie zu inkludieren. Eine Welt, in die meine Tochter hineinwächst, ebenso wie unzählige andere autistische Kinder – mit ein Grund für mich, warum ich aufkläre, warum ich Autismusberaterin geworden bin und unermüdlich versuche, für uns zu sensibilisieren.


Schaut auf die Stärken eurer Kinder, eurer Partner oder von euch selber. Und falls ihr autistisch seid und einen Kinderwunsch habt, setzt euch mit dem Thema auseinander, so wie jeder Mensch das tun sollte und dann entscheidet, ob ihr diesen Weg gehen möchtet oder nicht.

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