Meistens funktioniere ich – und dann kommt irgendeine Kleinigkeit – und plötzlich wird mir mein Autismus wieder so richtig bewusst. Gestern zum Beispiel. Ich sollte meine Tochter von der Schule abholen, weil es ihr nicht gut ging. Also habe ich mich kurz mit der Lehrerin meines I-Kindes besprochen und habe die Sprachnachricht ignoriert, die kurz nach der schriftlichen Nachricht der I-Helferin meines Kindes eingegangen ist. Eine Sprachnachricht abzuhören war mir im Unterricht nicht möglich. Vielleicht hätte ich vor die Tür gehen können, aber mein Kopf hat diese Möglichkeit nicht gesehen. Wenn ich zu überreizt bin und mich nur noch darauf konzentriere, zu funktionieren und einen guten Job zu machen, komme ich meistens nicht auf die einfachsten Lösungen (oder darauf, dass es andere Möglichkeiten gibt). So habe ich die Nachricht erst auf dem Weg zum Auto abgehört. Die I-Helferin hat nach (erneuter) Rücksprache mit der Lehrerin meiner Tochter mitgeteilt, dass ich doch noch nicht kommen solle. Sie würde es noch in der kommenden Stunde mit ihr probieren.
Also blieb ich abrupt stehen und in meinem Kopf war Chaos. Ich hätte gerne geweint, geschrien oder jemanden angerufen und nachgefragt, was ich nun tun solle. Sollte ich wieder in die Klasse meines I-Kindes gehen oder doch fahren? Musste ich das vorweg jemandem erklären? Mein Herz raste und ich fühlte mich unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Mehrere Minuten lang stand ich dort, wusste nicht mehr, was ich tun sollte und fühlte mich unglaublich dumm und beschämt dabei. Nach einer Weile wurde mir klar, dass jede Reaktion vermutlich besser war, als einfach nur vor dem Schulgebäude zu stehen. Das passt ja auch nicht, wenn man sein Kind abholen muss. Und so viel Würde wollte ich mir schon erhalten. Also schrieb ich, dass ich schon auf dem Weg bin, wissend, dass es aufgrund der zeitlichen Diskrepanz zur Nachricht lächerlich wirken würde. Trotzdem brauchte ich noch eine Weile, bis ich es schaffte, tatsächlich in mein Auto zu steigen.
Musste ich nun jemanden anrufen? Sollte ich mich später bei der Lehrerin melden und ihr den Sachverhalt erklären? War ich gar unhöflich, wenn ich das tat oder wenn ich es sein ließ? Da gab es einmal einen simplen Plan: Geh zur Schule und funktioniere. Das ist jeden Tag das gleiche und so simpel es tönt, ist dies lediglich die Idee davon. Fakt ist, dass meine Pläne ständig der Improvisation „zum Opfer fallen“ und ich manchmal beschämt deshalb schweige.
Einmal gab es eine Situation, die mich so überfordert hat, dass ich meine Kompetenzen hinterher in Zweifel zog. An einem Morgen war ein Probe-Feueralarm geplant. Tage vorher sprachen wir im Unterricht darüber und lernten alles Relevante dazu. Dann kam der Tag – und ich erfuhr es erst sehr kurzfristig. Als mein I-Kind beklagte, zur Toilette zu müssen, flüsterte mir die Lehrerin zu, dass es gleich so weit sei. Wir hatten alles genau durchgesprochen und für
mich gab es lediglich die Option, dass wir währenddessen im Klassenraum waren, damit wir uns genau an den Plan halten konnten. Denn wenn wir im Treppenhaus unterwegs waren, mussten wir vielleicht zwangsläufig einer anderen Route folgen. Und was machte ich, damit das Kind auf der Toilette keine Panik bekam, wenn es plötzlich laut und hektisch wurde? Sollte ich vorher mit dem Kind darüber sprechen oder war es wichtig, dies nicht zu tun? Ich erzählte dem Kind von dem geplanten Alarm und bat darum, dass es sich beeilte. Jede Minute bis zu unserer Rückkehr in den Unterricht raste mein Herz, versuchte ich das Chaos in meinem Kopf zu verscheuchen. Die Panik breitete sich in mir aus, ließ mich alles ins Genauste planen. Wo musste ich lang gehen und wie schnell? Worauf musste ich achten und wo war die Grenze? Ab wo nahm ich welchen Weg und was passierte, wenn ich mich falsch entschied? Blockierte ich damit den Weg für andere Klassen (teilweise)?
Glücklicherweise fand der Alarm erst statt, als wir wieder im Klassenraum waren. Bis dahin war ich jedoch sehr überreizt und kämpfte mit der Panik.
Stundenplanänderungen, neue Lehrer, Krankheit… Es gibt immer Situationen, in denen ich spontan reagieren muss. Dies alles ist möglich, wenn man mit Menschen zusammenarbeitet, die sich auf die Stärken der Menschen um sie herum fokussieren und nicht auf die Schwächen. Denn meine Arbeit mache ich trotz allem gut und gewissenhaft.
Wenn ich nach vier Stunden Schule heim komme, bringe ich diese Flexibilität nicht mehr auf. Meine Energien sind zu einem großen Teil verbraucht und das was ich noch habe, brauche ich anderweitig. Schaffen wir es nicht, die „nötige“ Flexibilität aufzubringen (wer bestimmt, was nötig ist und was nicht?), hat das selten etwas mit euch oder damit zu tun, dass wir das schlicht und ergreifend nicht wollen. Viele von uns erbringen große Leistungen bei der Anpassung, die uns oft mehr kosten, als man vermuten würde. Bitte würdigt, dass wir auf uns aufpassen. Versucht nicht, uns mit Druck zu noch mehr Leistung zu ermuntern, weil ihr vermutet, dass wir lediglich „müde“ sind. Viele von uns versuchen unermüdlich, uns selber „zu übertreffen“.
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