Blickkontakt und Augenkontakt
Der Begriff „Augenkontakt“ wird häufig synonym zum „Blickkontakt“ im Sprachgebrauch verwendet. Jedoch ist der Begriff „Augenkontakt“ für einige Autisten irreführend. Würden wir diesen initiieren wollen, müssten wir uns nicht nur sehr nah kommen, sondern auch das Problem mit der Nase lösen. Die ist permanent im Weg, wenn die Augen wirklich miteinander in Kontakt kommen sollen.
Viele, besonders erwachsene Autisten, kennen den Begriff und nutzen ihn selber. Aber gerade für diejenigen, die ihn noch nicht kennen, kann das sehr irreführend sein.
Ich höre doch nicht mit den Augen
Nicht autistische Menschen kommunizieren vorwiegend nonverbal und nur teilweise über Worte. Viele Informationen werden durch Mimik, Gestik, Stimmlage oder dem Kontext entnommen. Um gut miteinander kommunizieren zu können, ist es also nicht nur wichtig, das Gesagte wortwörtlich zu erfassen, sondern auch auf sprachliche Auffälligkeiten zu achten und Blickkontakt zu dem Gesprächspartner zu suchen.
Neurotypische Kinder suchen bereits kurz nach der Geburt den Blickkontakt zu der Mutter. Sie orientieren sich daran, kommunizieren zum Beispiel durch das Erwidern eines Lächelns darüber und lernen viel durch das Suchen der Blicke ihrer Interaktionspartner. Diese Entwicklung wird auch im weiteren Kindesalter zusätzlich gefördert, indem auf Blickkontakt verwiesen wird. Bereits im Kindergarten wird durch die Erzieher darauf geachtet, dass die Kinder sich an den Augen ihrer Interaktionspartner orientieren. Bei nicht autistischen Kindern ist das Bedürfnis, in den Blickkontakt zu gehen, angeboren und dies sicherlich sehr hilfreich.
Nicht autistische Menschen kommunizieren anders. Vielen von uns wird der Blickkontakt von klein auf antrainiert, ohne dass eine böse Absicht dahinter steht. Oftmals geschieht dies aus Unwissenheit oder mit dem Hintergedanken, uns damit zu „helfen“. Dies mag daran liegen, dass autistisches Vermeiden des Blickkontakts oftmals für eine nicht erlernte Fähigkeit gehalten wird. Jedoch gibt es auch nicht autistische Menschen, denen das visuelle Fixieren eines „fremden“ Blickes schwer fällt. Warum ist das so?
Es gibt mehrere Gründe, die Autisten für das Vermeiden des Blickkontakts angeben. Ein häufiger Grund, der auch für einige neurotypische Menschen zutreffen könnte, ist die dadurch entstehende Reizüberflutung. Bedenkt man, dass ein Erwachsener durchschnittlich rund 15 Mal in der Minute blinzelt und sich durch Mikroexpressionen die Mimik innerhalb von
Sekundenbruchteilen ändert, erzeugt dies eine visuelle Reizüberflutung. Besonders deutlich zeigt sich dies in den Augen anderer Menschen, wenn Blickkontakt gesucht und gehalten wird. Die Pupillen zeigen, aus autistischer Sicht, jede Menge kleinste Fragmente, die ineinandergreifen (durch einen Blick fürs Detail). Oftmals braucht das autistische Gehirn länger, um die einzelnen Fragmente zu einem großen Ganzen zu verbinden, was durch die Mikroexpressionen extrem erschwert wird.
Der Blickkontakt wird als sehr anstrengend empfunden.
Zudem ist das autistische Gehirn daran ausgerichtet, vorwiegend verbale Sprache aufzunehmen und zu verarbeiten. Dadurch werden deutlich weniger Informationen aufgenommen. Da die nonverbale Kommunikation wesentlich weniger relevant für das autistische Gehirn ist, braucht es möglichst exakte Informationen.
Es gibt aber durchaus Autisten, die sich einigermaßen gut nonverbal mit Informationen versorgen können. Oftmals ist dies jedoch sehr kräftezehrend und führt zu häufigem Rückzug. Ich selber kann Stimmlagen meistens gut erkennen und deuten, da mir dies weniger Mühe bereitet, als visuelle Informationen aufzunehmen. Diese kann ich den aufgenommenen verbalen Informationen zuordnen und diese entsprechend interpretieren. Manchmal kann es jedoch auch dauern, bis ich beide Informationen miteinander verbunden habe.
Natürlich hört kein Mensch mit den Augen. Wenn jedoch Blickkontakt als Bedingung, um das von anderen Gesagte besser verarbeiten zu können, herausgestellt wird, ist das für Autisten nicht plausibel. Wie schon geschrieben verarbeiten wir Informationen anders und die verbal erteilten Informationen sind für uns relevanter als die nonverbalen.
Ich habe als Kind erlernt, Blickkontakt zu suchen und zu halten. Früher habe ich auch häufig geschaut, als würde ich jeden Moment einschlafen, weil verbale Kommunikation für mich so herausfordernd gewesen ist, dass ich hinterher erschöpft davon war. Blickkontakt war in der Vergangenheit ein großer Stressor. Das Einhalten von diesem bedeutete, immer wieder daran denken zu müssen (damit ich es nicht vergessen habe), mich einer visuellen Reizüberflutung auszusetzen und mit meinem Frust umgehen zu müssen. Denn wenn ich den
Mikroexpressionen dabei zugesehen habe, wie sie immer neue Eindrücke schufen, konnte ich mich nicht konzentrieren. „Träumst du schon wieder?“ Ein Satz, den ich häufig gehört habe. Und irgendwann habe ich es dann wirklich getan. Mich abschotten, der ständige Kampf zwischen einem „Ich will dazugehören“ und „ich spiele im Film meines Lebens nicht einmal selber mit“. Den Frust aushalten, wenn ich vor lauter Reizüberflutung etwas nicht verstanden habe, Aufgaben nicht erledigen konnte und die entsprechenden Konsequenzen erhalten habe. Weil ich es nicht habe erklären können. Weil ich keine Worte hatte dafür, dass ich anders funktioniere als die meisten anderen Menschen. Weil es keine glaubwürdige Erklärung für die neurotypische Wahrnehmung gab. Weil Mädchen damals nicht autistisch waren (zumindest dachte man das).
Mittlerweile suche und halte ich keinen Blickkontakt mehr und profitiere davon. Ich darf meinen Ohren vertrauen, wenn sie nicht mit meinem Sehsinn zusammenarbeiten, um Informationen über verschiedene Sinneskanäle miteinander zu verbinden. Das funktioniert. Sehr gut sogar. Die erhaltenen Informationen überfordern mich nicht mehr und meine Ressourcen für zwischenmenschliche Kontakte sind deutlich gestiegen.
Seit meiner Kindheit war ich fest davon überzeugt, dass meine Augen nicht gut funktionieren würden. Durch das Starren in die Augen meines Gesprächspartners waren sie regelmäßig überreizt. Das liegt daran, dass ich gestarrt habe, ohne mir dessen bewusst zu sein. Bei visueller Reizüberflutung (wie zum Beispiel beim Blickkontakt) habe ich das Gefühl, durch eine Art „Milchglasschleier“ zu schauen. Diesen habe ich heute nur noch sehr selten, weil ich gelernt habe, dass es okay ist, mich zu schützen. Neurotypische Menschen sprechen von Defiziten, weil sie es als nachteilig empfinden. Ich persönlich spreche von einer anderen Wahrnehmung. Ja, es kann sich negativ auswirken, andererseits finde ich die Sicht nicht autistischer Menschen darauf sehr einseitig. Wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, sehe ich Blitzer schneller als die meisten anderen Menschen. Das liegt daran, dass ich nicht auf das Gesamtbild angewiesen bin, sondern ein Reflektieren durch die Linse des Blitzers aus der Entfernung wahrnehme (wenn der Blitzer NICHT ausgelöst wird). Defizit? Entscheiden Sie selber, wenn Sie das nächste Mal an einem Blitzer vorfahren.
Wenn man es nicht lernt…
Bei meiner Arbeit als freiberufliche Autismusberaterin erlebe ich immer wieder, dass Fachmenschen gutgemeint darauf pochen, dass autistische Kinder den Blickkontakt erlernen sollen, damit sie „später einmal selber entscheiden können“. Bei autistischen Erwachsenen wird wie selbstverständlich darauf gepocht, dass sie dies „selber entscheiden sollten“. Dass man den Kindern die Möglichkeit bieten möchten, Ihren Autismus zu „verstecken“ mag in Ordnung sein, auch wenn ich es sinniger fände, an ihrem Selbstbewusstsein zu arbeiten und Aufklärung zu betreiben. Das ist unbequem, wenn man sich damit auseinandersetzen muss,
dass wir anders funktionieren als nicht autistische Menschen. Möchte man autistischen Kindern die Möglichkeit geben, Blickkontakt zu erlernen, sollte dies nicht an eine Bedingung geknüpft sein. Spielerisch kann man auch autistische Kinder dazu motivieren, in das Gesicht des anderen zu schauen. Solange dies nicht eingefordert wird, haben sie jederzeit für sich die Möglichkeit, den Blick abzuwenden, wenn sie dies nicht möchten. Eine „Einladung zum Blickkontakt“ ist wesentlich sinnvoller als diesen durch eine Therapie erzwingen zu wollen.
Auch autistische Kinder haben das Recht darauf, diese Entscheidung für sich selber zu treffen. Oft genug wird uns unsere Wahrnehmung abgesprochen, wenn sich neurotypische Menschen nicht in uns „hineindenken“ können. „Kurz wirst du es ja wohl schaffen“ ist genauso unangemessen wie dies von einem Erwachsenen zu fordern (der sich im Zweifelsfall ganz anders wehren könnte).
Wenn man bedenkt, dass wir ohne diesen ganzen initiierten Blickkontakt häufig mehr Ressourcen haben, wie sinnvoll ist es dann, darauf zu pochen? Es wird auch gerne behauptet, dass ein fehlender Blickkontakt ein Zeichen von Selbstunsicherheit, Arroganz oder Desinteresse ist. Teilweise wirft man uns auch vor, dass wir nicht ehrlich sind, wenn wir keinen Blickkontakt halten. Im nächsten Atemzug wird dann mit uns geschimpft, weil ein bisschen weniger Ehrlichkeit wesentlich sozialverträglicher wäre.
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